Mühlengeschichten
Eisenbahnstraßenfest 2010
Es war einmal eine Provinzmetropole. Dort begab es sich, dass ein kleines Häuflein wackerer Kaufleute an einer zugigen und unansehnlichen Straße eine vage Idee hatte.
Kunst trifft Wirtschaft- so nannte sich beschönigend dieses Projekt. Jedenfalls trafen wir die Wirtschaft ohne Konzept und mit den hiesigen Gepflogenheiten und neuesten Erkenntnissen zur demokratischen Einbeziehung nur mäßig vertraut. Irgendwie erinnerte mich die Situation an das Märchen, wo jemand behauptet, man könne aus Stroh Gold machen.
Kreative Ideen zur optischen Verschönerung der unansehnlichen Eisenbahnstraße waren gefragt, vergänglicher Ruhm der örtlichen Wirtschaft und Politik bei Erfolg in Aussicht gestellt, unbezahlte Stunden in der Freizeit garantiert. Na, das ist doch genau das Richtige für uns Mühlenkünstler.
Vroni Brodmann, unsere von allen geschätzte Vereinschefin, legte sich gewaltig ins Zeug und so machten wir auch mit. Das Straßenfest wurde ein medialer Erfolg. Es hätte erfolgreicher sein können, wenn auch die vielen anderen Unternehmer aus der Eisenbahnstraße mit einbezogen worden wären.
Wir waren ein gutes Team. lnes Frank, Nicole Will und ich entwickelten in einer Sommernacht unter Verwendung bewusstseinserweiternder Substanzen in Gestalt von selbstgemachter Bowle jede Menge verrückter Einfälle, die für drei Straßenfeste in New York City gereicht hätten. Es gab genug „In-West-Ruinen“ in der Eisenbahnstraße – die Brauerei, das Rialto Passage Kino, das ehemalige Haus der Demokratie oder die seit der Wende leer stehende ehemalige Kommandantur – davor müsste man Gespenster aus luftgefüllten Mülltüten installieren, … , vielleicht kann man auch Kunst aus Stroh … , na wenigstens Papierrollen im Großformat standen uns kostenlos zur Verfügung. Die originelle Origami-ldee, daraus Riesenpapierschiffchen, Maxi-Papierflugzeuge und XXL-Papierpalmen im großen Stil zu falten und mit diesen Objekten den Fußgängerbereich zu beleben, endete schon in der Probephase mit einem Desaster. Mein Versuchsschiffchenmodell Nummer 2, dass ich auf den Holzdielen der Mühle vor mir ausgebreitet hatte, maß immerhin 1,50 Meter vom Kiel bis zur Mastspitze und stolze 3 Meter vom Heck bis zum Bugspriet. Ich wähnte mich schon im Guinness Buch der Rekorde. Allein das Falten der zusammengeklebten Monsterbahnen dauerte zwei Stunden. Doch beim Aufrichten zerplatzten meine Träume. Das Papier nahm die Eigenschaften von Filzlappen an und sackte einfach in sich zusammen. Mit ihm übrigens auch mein Selbstbewusstsein. Ich bin sicher, mit 2 Millimeter dicker Silberfolienbeschichtung hätte es klappen können.
lnes und Nicole waren pragmatischer und ausdauernder. Als sie sahen, dass ihren Papierpalmen zu wenig Standfestigkeit beschieden war, konzentrierten sie sich auf die selten gewordene Technik der Fenster-Papierkunst. Leere Fenster gab es in der Eisenbahnstraße genug. Und noch einen Tag, bevor uns der Hausmeister der WHG mit seinem Guinnessbuch-rekordverdächtigen Schlüsselbund Zugang zu einigen unvermieteten Wohnungen in der Eisenbahnstraße verschaffte, schnippelten wir die letzten Blüten- und Gespenster-Silhouetten aus Papier. Auch auf den Hausmeister war Verlass. Und so klebten wir am nächsten Tag nicht nur unsere Papierdekorationen in zahlreiche Fenster, sondern wurden gleichzeitig mit kulturgeschichtlich einmaligen Feldstudien in den Niederungen des Eberswalder Wohnungsleerstandes ideell entschädigt. Allein mit diesen Erlebnissen könnte ich ganze Eberswalder Jahrbücher füllen. Der materielle Lohn unserer Schinderei bestand in 100 Euro Preisgeld, den wir am Tag des Straßenfestes zusammen mit der Urkunde über einen 3. Platz für unseren Kunstbeitrag erhielten. Einer der „Honoratioren“ drückte lnes einen Riesencheck in die Hand. Mit einem kleinen Teil des Preisgeldes wollten wir kurz darauf unseren Triumph im Lokal Matisse begießen, der andere Teil sollte der Mühle gespendet werden. So der Plan.
Nach dem kurzen Gaststättenbesuch reichten die restlichen Münzen gerade noch für Nicoles Taxifahrt in den heimatlichen Ortsteil Finow. Wenigstens hatten wir unseren bescheidenen Beitrag zur Ankurbelung der Wirtschaft in Eberswalde geleistet. lnes ging in Vorkasse, denn sie hatte ja den Scheck. Der auch mit einem gehörigen Schreck verbunden gewesen sein muss, als sie am nächsten Tag mit dem metergroßen Teil am Bankschalter anstand, um dafür eine wesentlich handlichere 100 Euro Banknote einzulösen. Fehlanzeige. Das sei ein Muster ohne Wert, nur ein Stück Pappe. Das Geld gäbe es direkt bei der Firma Hoffmann & Ewert. Nach einem weiteren Büßergang war klar: Herr Hoffmann weilte im wohlverdienten Urlaub und man könne da erst mal gar nichts machen. Wie gut, dass ich nicht an lnes‘ Stelle war, denn ich hätte sofort entnervt aufgegeben und womöglich aus dem bedruckten Pappstück etwas Obszönes zurechtgeschnitten und in mein Fenster geklebt. Aber da Frauen wenigstens in solchen Situationen rationaler vorgehen, gab es schlussendlich doch noch ein Happyend und die Kunst und die Wirtschaft in Eberswalde trennten sich noch einmal in Frieden.